Mittwoch, 24. April 2019
Die brüllende Frau und ihr Sohn

Sie trägt wallende Kleider, die bestimmt einem grell-leuchtend, nun nur noch abgetragene lange Fetzen sind, die Farben nicht definierbar, gedeckt zwar, aber nicht gewollt gedeckt wie es alte Damen eben tragen, sondern einfach nur verblichen. Die ganze Frau scheint verblichen, ihre Haare, ihr Gesicht, ihr Körper. Ihr Blick ist starr, die Augen weit aufgerissen, was noch extremer wirkt durch die eingefallenen Wangen. So läuft sie durch die Straßen hier. Und brüllt. Es sind ganze Sätze, die sie laut durch die Gegend schmettert, nur ergeben sie keinen Sinn. Als würde sie andere Dinge sehen, als der Rest der Welt und nun beschwert sie sich, warum nur niemanden auffällt, was da alles vor sich geht.
Immer mindestens zehn Schritte hinter ihr läuft ein Mann, Ende Dreissig würde ich schätzen, aber auch bei ihm ist das schwer. Er ist noch nicht so kaputt wie die Frau, aber auf dem besten Weg dahin. Er hat immer ein Bier in der Hand, eine Dose, niemals Flaschenbier und läuft mit genügend Sicherheitsabstand stoisch hinter der brüllenden Frau her. Wenn man nicht weiß, dass sie zusammengehören, fällt einem das gar nicht auf. Dann würde man es für ein zufällige Anhäufung von kaputten Gestalten an einem Ort halten, an dem die meisten eher innerlich denn physisch kaputt sind. Hier kommt beides zusammen. Wenn man allerdings um die familiären Umstände weiß, ergibt das Gebrülle dann doch einen Sinn. Nein, keinen Sinn, aber man weiß zumindest, an wen es interessiert ist, nur: den Sohn interessiert es auch nicht. Oder vielleicht sieht er die gleichen Dinge wie sie, genetisch bedingt sind sie sich ähnlich, und vielleicht hat er einfach resigniert, weil er merkt, dass es sonst niemanden interessiert. Nur seine Mutter und so folgt er ihr, ignoriert ihr Gebrülle und sieht zu, dass immer genug Dosenbier zur Hand ist, um das Geschrei erträglich zu halten. Und den ganzen Rest auch.

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